Michi Rüegg nimmt eine gewisse physische Annährungen unter Männern als solche wahr.
Die arktischen Inuit – wie man Eskimos zur Zeit nennt, in denen wir nichttranssexuellen Menschen «cisgender» heissen – diese Inuit begrüssen einander mit gegenseitigem Nasenspitzenreiben.
Das hat praktische Gründe. Wenn nämlich der gesamte Körper mit Eisbären- und Babyrobbenfell bedeckt ist, stellt die Nase die einzige Möglichkeit des Hautkontaktes dar.
Das Prinzip Haut-auf-Haut findet sich bei den meisten Begrüssungsritualen wieder – allen voran dem hierzulande verbreiteten Händeschütteln.
In meiner Jugend reichte als Begrüssung zwischen zwei männlichen Teenagern ein angedeutetes Kopf-nach-hinten-Werfen. Wer intime Nähe zu seinen Freunden demonstrieren wollte, konnte kurz seine Faust gegen die fremde Faust drücken. Daraus abgeleitet entstanden auch kompliziertere, gar verspielte Handchoreografien, die allerdings die gegenseitige Berührung auf ein Minimum reduzierten.
Küssen tat man als Teenager eh nicht. Vielleicht die Mutter, wenn’s sein musste. Aber das war irgendwie eklig. Heterosexuelle Klassenkameraden küssten manchmal Mädchen, aber die meisten schafften auch das nicht. Männer, die andere Männer küssten, kannte ich bis dahin nur von Feiern mit Blutsverwandten. Opas feuchte Küsse waren immer ein Graus. Zudem roch er nach ungelüfteter Wäschezeine.
Während meiner ersten Ausflüge ins schwule Zürich Ende der Neunzigerjahre bemerkte ich, dass Männer sich dreimal auf die Wange küssen. Links, rechts, links. Wurde man hernach nicht gerade von einer Jugendbande verprügelt, konnte man nach dem Küsschen-Küsschen-Küsschen durchaus ein gepflegtes Gespräch führen. Die Küsserei hatte insofern nur eine sexuelle Komponente, als dass sie ein Ausdruck der sexuellen Identität war.
Zwei Jahre darauf wagte ich mich vom schwulen Zürich ins schwule Amerika. Meine Versuche, neue Bekannte dreimal abzuküssen, gelangen mir dort nicht immer. Häufiger setzten amerikanische Männer zu einer sanften Umarmung an. Ich hatte den «hug» kennengelernt.
Nachdem englische Profifussballer und ihre Nachfahren im Geiste erfolgreich die Metrosexualität etabliert und den durchschnittlichen Heteromann mit einer Wahrnehmung für den eigenen Körper ausgestattet hatten, änderte sich auch hierzulande vieles. Der heterosexuelle Durchschnittsmann begann, auf sein Äusseres zu achten, erwarb teure Haarschnitte und beschritt erstmals Parfumabteilungen in Kaufhäusern. In der Folge entkrampfte sich das Verhältnis des Mannes zu seinem eigenen Körper und er begann, nicht nur sich selber im Spiegel zu betrachten, sondern auch andere Männer. Vor allem solche, die (Phase 1) mehr Muskeln, (Phase 2) den schöner betonten Körper und (Phase 3) die effektiveren Körperbehaarungsmethoden hatten. Gewisse Männer begannen in der Folge, andere Männer genauso intensiv zu betrachten wie Frauen, wenn auch mit noch mehrheitlich unterschiedlichen Absichten.
Im Wissen um diese Entwicklungen, deren Zeugen wir in den vergangenen zwanzig Jahren geworden sind, können wir nun die zeitgenössischen Begrüssungsrituale besser verstehen. Dafür müssen wir aber erst festhalten, dass das Dreierküssli unter Schwulen zwar noch existiert, aber eher altbacken wirkt. Wie Küss-die-Hand in Österreich. Wer heute noch dreimal küsst, outet sich als Traditionalist. Wie Halloween und der Santa Claus ist auch der «hug» als populärkulturelles Importgut über den Ozean zu uns gewandert. Heute huggen wir viel mehr als früher. Und wer dem Hug eine intimere Note verleihen möchte, der ergänzt ihn um einen singulären sanften Wangenkuss.
Der Hug ist dermassen populär und sexuell unverfänglich geworden, dass mittlerweile auch Teenager jedwelchen Geschlechts sich gegenseitig huggen, ohne von ihren Altersgenossen verprügelt zu werden. Neulich war ich bei Bekannten zu Besuch, die zwei Söhne im Teenager-Alter haben. Beide haben mich herzlich zur Begrüssung umarmt. Ohne mir heftig auf den Rücken zu hauen, sondern ganz liebevoll. Das macht man jetzt offenbar so.
Die Fortsetzung der körperlichen Annährung zwischen sexuell unverfänglichen Teenagern findet ihren Ausdruck übrigens in bemerkenswerten Ritualen. So weiss ich von jungen, an sich heterosexuellen Männern, die mit ihren besten männlichen Freunden durchaus mal vor dem Fernseher kuscheln. Was Mädchen schon lange durften, ist also mittlerweile auch ein Männerrecht.
Es ist schön, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter in beide Richtungen Früchte trägt.