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Buchtipp: Familie, Variante queer


Was passiert mit einer Liebe, mit einer Familie…wenn sich ein Mensch für eine Geschlechtsumwandlung entscheidet? Maggie Nelson schildert ihre Erfahrungen in einem spannenden Werk.

Von Birgit Kawohl

Selten lernt man auf dem deutschsprachigen Buchmarkt solch breit aufgestellte Autoren kennen wie Maggie Nelson, eine der Sensationen des diesjährigen Buchherbstes. Die 1973 geborene Amerikanerin ist in ihrer Heimat seit Jahren als Dichterin, Essayistin und Kritikerin bekannt und liegt nun mit ihrem Werk «Die Argonauten» zum ersten Mal in Übersetzung in den hiesigen Buchhandlungen.

Der Begriff «Werk» wurde ganz bewusst gewählt, da Nelson häufig die Genregrenzen überschreitet; den Leser erwartet sowohl eine philosophische Abhandlung und ein queerer Essay als auch ein autobiografischer Roman mit politischen Statements. Grundsätzlich geht es um Nelsons Leben als lesbische Mutter mit einem Transmann an ihrer Seite, der einen Sohn in die Beziehung mitbringt. Harry, eigentlich Harriet, macht ihre Transition in der geschilderten Lebensphase durch mit allen Höhen und Tiefen, die solch eine tiefgreifende Veränderung mit sich bringt. Dies stellt beide Partner auf eine harte Probe, denn Nelson ist sich zu Beginn nicht klar, ob sie ihre Frau auch als Mann noch wird lieben können und wie überhaupt die hormonelle Veränderung Einfluss auf ihre Beziehung haben wird. Harry hingegen – und da fühlt man sich an Goethes Gedicht «Gingko biloba» aus dem «West-östlichen Diwan» erinnert: «Ist es Ein lebendig Wesen,/ Das sich in sich selbst getrennt?/ Sind es zwei, die sich erlesen,/ dass man sie als Eines kennt?» - sagt, er sei nun «zwei für einen». Dass ihr Leben zu zweit unabhängig von Genderzuweisungen funktioniert, manifestieren die beiden bei ihrer Hochzeit im Jahr 2008 in Hollywood, auf die im Jahr 2011 die Transition Harrys folgt.

Fürsorge für Kinder ist nicht an ein Geschlecht gekoppelt

Neben der persönlichen Ebene, eben die Transition, das Schwangerwerden mittels künstlicher Befruchtung, die Geburt des Sohnes Iggy, enthält «Die Argonauten» eine Menge Gedanken aus dem sowie zum nicht-heteronormativen Milieu mit der Erkenntnis, dass die angestrebte Homonormativität die «natürliche Konsequenz der Entkriminalisierung von Homosexualität» sei. So sei die Fürsorge für ein Kind keinesfalls an ein Geschlecht gekoppelt. Dies ist in der momentanen Diskussion um Adoptionsrechte sicherlich eine essenzielle Aussage. Andererseits wird neben diesem Appell aber auch eine sehr realistische Sichtweise deutlich, wenn Nelson zu Recht anmerkt, dass kein Mensch vierundzwanzig Stunden am Tag im unmittelbaren Bewusstsein seines Geschlechts leben könne. Eine Feststellung, zu der nur wenige Genderfachleute fähig zu sein scheinen.

Bereits auf der ersten Seite fällt die manchmal doch sehr harte Sprache auf, derer sich Nelson bedient («als du mich das erste Mal in den Arsch fickst»), die dann auch im weiteren Verlauf durch ihre Klarheit besticht, auch wenn es immer wieder um philosophische und gesellschaftsrelevante Fragen geht. An vielen Stellen zeigt sich dann auch, dass Nelson in der Materie mehr als zu Hause ist, ihr Fachwissen in Bezug auf - vor allem weibliche - Genderfragen scheint nahezu unerschöpflich. So bietet die Autobiografie nicht nur fundierte Aussagen ihrerseits, sondern auch Ideen und Anregungen für die Weiterbeschäftigung mit mittlerweile klassischen Werken der Genderforschung (von Sigmund Freud bis Judith Butler) als auch mit Neuentdeckungen für viele Leser. Ein Essay also, der im besten und klassischen Sinne anregend wirkt.

Maggie Nelson: Die Argonauten. ISBN: 9783446257078. SFr 28.90.


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