Nach 20 Jahren als schwuler Mann fühlt sich Michi Rüegg noch immer schwul. Aber vom Mannsein hat er langsam die Schnauze voll.
Wie merkt man, dass man älter wird? Manche von uns erkennen das beim Blick in den Spiegel. Andere würden es erkennen, wenn sie sich nicht permanent selber anlögen. Wieder andere, etwa meine Wenigkeit (hust, hust), bleiben ewig jung.
Doch auch ich stelle fest, dass ich reife. Zum Beispiel: Junge Leute verdrehen die Augen, wenn ich frage, wie dieses Snapchat funktioniert. Oder wie man Instagram-Story sucht. Herrje, denken die. Der Onkel ist aus dem letzten Jahrhundert. Und ja, von dort bin ich. Aus den Siebzigerjahren, als Bettwäsche noch orangegeblümt war. Und man bei Vorhängen olivgrün mit dunkelbraun kombinierte.
Das Schöne am Älterwerden ist aber auch, dass man immer wieder neue Dinge dazulernt. Ich war ja die ersten zwanzig Jahre meines Lebens eine Schrankschwuchtel. Closet gay. Ich habe meine Identität versteckt. Dann durfte sie raus, ich wurde Mensch. Ich war zwar ein bisschen diskriminiert, aber glücklich. Und Jahr für Jahr diskriminierten die anderen solche wie mich etwas weniger.
Derzeit stehe ich wieder an einem Wendepunkt. Ich stelle nämlich gerade meine männliche Identität in Frage. Nicht, dass ich etwas anderes sein möchte, als das, was ich bin. Nein, ich frage mich, ob das, was ich bin, tatsächlich ins herkömmliche Raster passt. Ob ich ein «Mann» sein will, also das, was die Gesellschaft unter «Mann» versteht. Also ein Donald Trump, der Frauen an die Pussy langt. Oder ein Harvey Weinstein, der es nicht beim Grapschen belassen hat. Oder all die anderen Männer, die idealtypische Botschafter dieses Geschlechts sind. Das bin ich nicht.
Die Gay-Szene hat sich in den letzten Jahren des Männlichen bemächtigt. Wir haben uns Bärte zugelegt, die Körperhaare wuchern lassen. Haben tiefe Stimmen trainiert und auf Grindr sind wie auf einen Schlag alle Tops geworden. An Fetisch-Partys verkleiden sich Schwule als Fussballer, greifen sich zwischen die Beine und verdrängen die Erinnerungen daran, wie sie als Kinder panisch vor dem Ball weggerannt sind. Warum? Weil Männlichsein das neue Mass aller Dinge ist? Oder weil wir vielleicht eine Parodie auf die Männlichkeit veranstalten und uns so an ihr zu rächen versuchen?
Kurzfassung: Es ist mir Wurst. An sich. Stattdessen trainiere ich mir an, Menschen zu sehen. Ich habe in den vergangenen Monaten die einen oder anderen nonbinären Personen entdeckt. Und finde sie ganz erfrischend. Neulich stand ein junger Mann bei uns im Büro. Eine Mitarbeiterin stellte ihn vor «Das ist Soundso, er hat...», da unterbrach sie der Gast: «Äh, ich verwende keine Pronomen!» Das anschliessende Gespräch war dann nicht mehr so spontan, weil die Frau jeden Satz erst im Kopf vorformulieren musste. Aber es war erfrischend. Es hat uns gezeigt, dass nicht die Sprache uns zu definieren hat, sondern wir der Sprache den Marsch blasen. Und wenn wir üben müssen, dann üben wir halt. Meine Grossmutter musste sich auch in jahrelangem Training Begriffe wie «Neger» abgewöhnen.
Ich habe absolut keine dringenden Bedürfnisse, mich optisch oder sonstwie zu entmännlichen. Aber ich mag die Idee, mich einen Schritt vom Binären zu entfernen. Wir haben im Büro nun auch genderneutrale Toiletten. Bislang hat sich niemand beschwert.
Neu ist das alles eigentlich nicht. Denn wenn ich ehrlich bin: Wo ist meine Männlichkeit, wenn ich mit gespreizten Beinen auf der Matratze lag und auf einen der unzähligen -Grindr-Tops warte, die da im Orbit vor meinem Schlafzimmer kreisen?
Hören wir doch auf mit dem Scheiss. Willkommen in einer Zukunft ohne ätzende Geschlechterzuschreibungen. Lasst uns den ersten Schritt machen. Lasst uns Mann und Frau entsorgen.