Hanya Yanagihara wurde 2017 mit ihrem Roman «Ein wenig Leben» quasi über Nacht zum Shooting-Star am Literaturhimmel. Jetzt ist ihr eigentlicher Erstling aus dem Jahr 2013 «Das Volk der Bäume» auf Deutsch erschienen. Ein leiseres Werk, aber ebenso verstörend.
Normalerweise ist man als Leser und noch mehr als Kritiker bei Erstlingswerken sehr skeptisch. Zum einen, weil man Autor*in und Schreibstil noch in keine Schublade gesteckt hat, zum anderen aber auch, weil die «Erstgeborenen» häufig unter Anfängerfehlern leiden. Bei der US-Autorin Hanya Yanagihara haben wir so etwas wie eine verkehrte Welt, erschien doch ihr zweiter Roman «Ein wenig Leben» bereits vor zwei Jahren im deutschsprachigen Raum und ihr eigentlicher Erstling liegt erst jetzt in den Buchhandlungen aus.
Mit ca. 470 Seiten haben wir – im Vergleich zu «Ein wenig Leben» - einen nahezu schmalen Band vorliegen, der aber eine ebensolche Sogwirkung zu erzeugen vermag, auch wenn die Thematik zunächst einmal eine vollkommen andere zu sein scheint.
Norton Perina, ein 1924 in den USA geborener Mediziner, bekommt als junger Wissenschaftler die Gelegenheit, den Anthropologen Paul Tallent auf eine Forschungsreise nach Mikronesien zu begleiten. Dort wollen sie das Volk der U’ivuaner – ein fiktiver Stamm auf fiktiven Inseln – erforschen. Bei ihrer Reise fallen ihnen merkwürdige Menschen innerhalb der sowieso auf sie befremdlich wirkenden Bevölkerung auf: Es handelt sich um die sogenannten Träumer, die viel älter sind, als Menschen eigentlich werden können, die allerdings ein verändertes Verhalten gegenüber den restlichen Inselbewohnern aufweisen. Perina kommt dem Geheimnis allmählich auf die Spur, wofür er später auch mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wird. So viel zur Hauptgeschichte, die aus der Sicht Perinas quasi wie eine Autobiografie erzählt wird. Durch die Rahmenhandlung und den darin von einem Freund und Mitarbeiter Perinas genannten Informationen – geschickt getarnt als ein Vorwort - weiss man aber, dass sich Perina nun – wir befinden uns im Jahr 1995 - offenbar im Gefängnis befindet, verurteilt wegen Vergewaltigung, Unzucht mit Minderjährigen und sexueller Nötigung.
Es wird also schon am Anfang deutlich, dass das Thema in diesem Roman ein ganz ähnliches ist wie in «Ein wenig Leben»: Vergewaltigung, Missbrauch und deren Folgen. Doch ist das Grauen hier so leise und unscheinbar, dass man sich lange Zeit fragt, stimmt es überhaupt, was der fiktive Herausgeber gesagt hat? Kommt es hier zu Übergriffen? Lernt man doch Perina als akribischen Wissenschaftler kennen, der offenbar auf Männer steht und in seinen Chef, Professor Tallent, hoffnungslos verliebt ist, ohne ihm jedoch endgültig nahe zu kommen. Doch dann folgen Szenen, die einen zum Zweifeln bringen, auch wenn diese ganz ruhig und fast verschämt erzählt werden: So beschreibt Perina, wie er von einem jungen Eingeborenen «verhext» wurde, wobei es sich eindeutig um Missbrauch handelt. Ganz am Ende wird dann kurz und heftig ganz deutlich, was für ein Schwein der angeblich so hervorragende Wissenschaftler ist, als er nämlich eins seiner 43 (!) Adoptivkinder brutal und mehrfach vergewaltigt und anschliessend noch über die Anzeige überrascht ist, weil er ihm doch «sein Herz gegeben» hat.
Erschreckend banal erscheint hier die Tat, denn so wird sie von ihrem Verursacher empfunden, womit in aller Heftigkeit durch den gelungenen Perspektivwechsel eins deutlich wird: Was für das Opfer eine lebenslange Qual bedeutet, ist für den Täter offenbar eine Kleinigkeit.
Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume. Hanser Berlin. ISBN: 978-3-446-26202-7. CHF 37.90.