Die USA in den wilden 60ern. Jeder nach seiner Fasson? Oder etwa nicht? Merlis zeichnet den Spagat eines Mannes zwischen bürgerlicher Ehe und schwulem Sex.
Birgit Kawohl
Mit «Halbstark» legt der Albino Verlag den letzten Roman des im Jahr 2017 mit 67 Jahren verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Mark Merlis auf und regt damit zum Nachdenken über Lebenssinn und Moralvorstellungen an.
Jonathan Ascher ist Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Mit vierzig Jahren heiratet er die 17 Jahre jüngere Martha, die von ihm schwanger ist. Die beiden führen mit ihrem Sohn Mickey nach aussen das Leben einer bürgerlichen Familie. Als Mickey als einer der letzten amerikanischen Soldaten im Januar 1973 in Vietnam fällt, bricht für die Eltern eine Welt zusammen. Martha liest dann lange nach Jonathans Tod dessen Tagebücher, aus denen sie erfährt, dass Jonathan die ganze Zeit über ein Doppelleben geführt hat und dass sich seine einmal ihr gegenüber gemachte Aussage «ich habe schon mit vielen Leuten Sex gehabt» nicht, wie sie es verstanden hat, auf viele Frauen bezog.
Stilistisch interessant ist die literarische Umsetzung dieses Doppellebens Jonathans, denn der Roman bewegt sich auf zwei Ebenen: Die eine ist die im Jahr 2003 spielende Erzählung aus der Sicht der ihren Mann inzwischen dreissig Jahre überlebt habenden Martha. Sie ist eine kluge Frau, die als Illustratorin arbeitet und ihre unglückliche Ehe mit einigen Affären in den bei Jonathans Bruder verbrachten Sommerferien kompensiert hat. Sie betrachtet aus der Gegenwart die Verhältnisse ihrer Ehe sehr klar und unromantisch. Doch leugnet sie zu Beginn ganz klar, dass Jonathan schwul gewesen sein könnte, für sie war er ein Gesetzloser, der die «Tunten» hasste. Mickey hingegen ist seinem Vater schon mit 14 Jahren auf die Spur gekommen, hat erst einen Deal mit diesem ausgehandelt («ich sage nichts von deinen nächtlichen Sexabenteuern und du verrätst Mom nicht, dass ich rauche»), sich danach aber vollkommen von ihm abgewendet.
Mit dem Lesen von Jonathans in einer Bibliothek eingelagerten Tagebücher, erfährt Martha spät die ganze Wahrheit. Der Roman wechselt nun immer zwischen Jonathans Tagebucheinträgen und Marthas Kommentaren hierzu. Dabei gelingt es Merlis, einen jeweils ganz unterschiedlichen Sprachduktus zu treffen. Während Jonathans Einträge vor Derbheiten strotzen, da ist von Ständern, von Pisse, von Rammeln die Rede, ist in Marthas Erzählungen die Sprache zwar auch relativ direkt, werden die Grenzen aber nie so überschritten, wie es in den Tagebucheinträgen passiert. Man hat dadurch als Leser durchaus das Gefühl, in Privatheiten einzudringen, etwas zu lesen, was gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, während Marthas Teil die offizielle Geschichte ist. Diese ist zwar immer noch zum Teil haarsträubend, zugleich hat man aber auch mehrfach das Gefühl, Martha in Schutz nehmen zu müssen.
Mit Jonathan hingegen wird man trotz der intimen Details aus seinem Leben nie recht warm, er bleibt einem fremd in der Mischung aus elitärer Literaturwelt und seinem wenig Verständnis hervorrufenden Verhalten des Versteckens und des Lügens gegenüber Martha und Mickey. Interessanterweise verurteilt man Martha sehr viel weniger für ihre Affären.
So bleibt am Ende der bittere Nachgeschmack, dass viele Menschen, die ihre wahre Sexualität verleugnen, mit ihren Heimlichkeiten und Lügen mehr Schaden anrichten als alle anderen Fremdgänger dieser Welt.
Mark Merlis: Halbstark. Albino Verlag. ISBN 978-3-86300-274-9. CHF 37.10. Zum Beispiel hier...