Die Schweiz hat (noch immer) ein Problem mit Homophobie – das finden nicht nur Betroffene, sondern mittlerweile auch Politiker bedenklich und mahnen zum Handeln.
Ja, wir leben in einem fortschrittlichen Land. Ja, Toleranz und Akzeptanz werden hier grossgeschrieben. Ja, LGBT*-Menschen leben bei uns im Vergleich zu anderen Ländern weitgehendmunbeschwert. Aber: Homohass und der Hass gegen andere sexuelle Minderheiten ist leider auch in der hochentwickelten Schweiz nach wie vor ein Thema. Von vorbehaltloser Unvoreingenommenheit und Vorurteilsfreiheit durch sämtliche Gesellschaftsschichten sind wir bedauerlicherweise noch weit entfernt, wie sich in Zeiten von Social Media immer wieder auf erschreckende Weise zeigt. Ein junges Beispiel ist der Fall Sven Epiney. Vor laufender Kamera machte er seinem Partner einen Antrag.
Lawinen von abgründigen Hasskommentaren rollten anschliessend durchs Internet. Im Schutze der vermeintlichen Anonymität zeigen viele Menschen ihr wahres Gesicht. Aber auch in aller Öffentlichkeit schlägt es sich zuweilen nieder, wie ebenfalls unlängst beim Zürcher Lochergut, wo homophobe Halbstarke einen Aufklärungsstand der LGBT*-Community angriffen und verwüsteten.
Und nicht zuletzt äussert sich die schwelende Homofeindlichkeit auch in der Alltagssprache der Jugend: Solange «Schwuchtel» und «schwul» noch immer im Kontext mit einer Beschimpfung oder Beleidigung ausgesprochen werden, bleibt Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit angezeigt.
Homosexuelle sind für die Mehrheit noch immer nicht «normal»
Hat die Schweiz also ein ernsthaftes Problem mit Homohass? «Cruiser» hat Barbara Stucki (*1988) dazu befragt. Die gebürtige Emmentalerin ist Grossrätin der Grünliberalen Partei Kanton Bern und lebt heute mit ihrer Partnerin im Berner Mittelland. Als lesbische Frau fühle sie sich in der Schweizer Gesellschaft zwar im Grossen und Ganzen toleriert und akzeptiert, wie sie sagt. Aber in manchen Situationen stellt sie fest, dass es offenbar noch immer irritiert, wenn etwa eine Frau eine Partnerin vorstellt und nicht einen Partner. «Das zeigt für mich, dass homosexuelle Paare auch im Jahr 2019 für die Mehrheit der Bevölkerung nicht ‹normal› sind. Das macht mich nachdenklich.» Besonders beängstigend sind für die Politikerin die Reaktionen, welche LGBT*-Menschen etwa im Ausgang entgegenschlagen, wenn die Hemmschwelle für Übergriffigkeiten niedriger ist. «Ich kenne zahlreiche junge homosexuelle Paare – männlich wie weiblich – und insbesondere auch Transmenschen, die im Ausgang massiv angegangen wurden und werden», sagt Barbara Stucki. «Und die niederträchtigen Onlinekommentare kennen wir wohl alle... Das alles zeigt, dass wir in der Schweiz sehr wohl noch ein Problem mit homo- und transphoben Menschen haben», kommt die Bernerin zum ernüchternden Schluss.
Gesetzlich sind LGBT*-Menschen in der Schweiz bis dato nicht vor Hassverbrechen geschützt, ohnehin rangiert die Schweiz im internationalen Vergleich auf einem bedenklich schlechten Platz, was die Rechte sexueller Minderheiten angeht. Das bedauert auch Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross. «Und trotz dieser Umstände tun sich Politik und Behörden noch immer sehr schwer, dieses Thema endlich anzugehen. Überdies fehlt auch jegliche Prävention, da keine Mittel dafür zur Verfügung stehen», gibt Heggli zu bedenken. Immerhin: 13 der 26 Schweizer Kantone haben nun im Rahmen des «International Day against Homo-, Bi-, Inter- and Transphobia» 2019 das Problem von Hassverbrechen gegen LGBT*-Menschen auf ihre politische Agenda gesetzt.
Um dieser allgegenwärtigen Homophobie beizukommen, müssten sich mehr LGBT*-Menschen offen und selbstbewusst zeigen, ist Barbara Stucki überzeugt, sieht hier aber ein grosses Dilemma: «Wie sollen wir von unserer Community fordern, selbstbewusst als LGBT* unterwegs zu sein, wenn sie gleichzeitig mit An- oder Übergriffen rechnen muss?» Genau hier hätten Politik sowie auch die Medien eine grosse Verantwortung, fügt die Grossrätin an. Medien würden beispielsweise mit Porträts oder einfach der Präsenz von homosexuellen Menschen dazu beitragen, dass diese Teil der «Normalität» würden. «Die Politik indes muss klar die Bedingungen schaffen, damit LGBT*s gesetzlich gleichgestellt sind sowie Diskriminierungen und Angriffe ihnen gegenüber strafbar sind», betont sie. «Denn solange das Gesetz einen Unterschied zwischen heterosexuellen und homosexuellen Menschen macht, wird es schwierig, von der Gesellschaft zu verlangen, LGBT*s nicht als ‹Sonderfall› zu sehen und zu behandeln.» Es sei an der Zeit, dass die Politik sexuelle Minderheiten endlich als besonders gefährdet für Übergriffe ansehe und die Notwendigkeit für entsprechende Massnahmen erkenne.
Gesellschaft und Familie als meinungsprägende Faktoren
Worin gründet Homophobie überhaupt? Dazu gibt es mehrere Ansätze, welche in sich plausibel sind. Einer davon ist die eigene Identität, in welcher unterschwellig homoerotische Neigungen existieren. Die Angst vor diesen und der durch sie herrschende «Mangel» innerhalb der eigenen Geschlechterrolle können Abneigung gegen Menschen hervorrufen, welche sich mit ihrer homosexuellen Ausrichtung arrangiert haben und sie leben. Auch Geschlechtertypisierung, respektive das Propagieren einer «Norm» in Bezug auf die «richtige» Sexualität kann mit ein Grund sein. Erlernt ein Kind Stereotypen in einem negativen Kontext, sprich: kriegt es indoktriniert, dass einzig Mann und Frau die «normale» und «richtige» Kombination sind, kann das Homophobie begründen. Hier lokalisiert auch Barbara Stucki eine wahrscheinliche Ursache. «Ich bin überzeugt, dass der gesellschaftliche und familiäre Hintergrund die Meinung der Menschen massgeblich prägt», sagt sie und hebt die Wichtigkeit hervor, dass insbesondere Kinder und junge Menschen die Möglichkeit erhalten, LGBT*s ganz selbstverständlich als Teil der Gesellschaft kennen- und wertschätzen zu lernen. «Denn wo dieses Gesellschaftsbild in den Familien oder im engen Umfeld nicht vermittelt wird, da ist ein Nährboden für Homophobie und eine allgemein ablehnende Haltung gegenüber LGBT*s zu spüren.»
Städter sind (vordergründig) offener
Die Schweiz ist sehr ländlich. Weite Teile davon sind zudem erzkatholisch geprägt. Viele Bewohner sind konservativ eingestellt, konservativer als in städtischen Gebieten. Es herrscht ein gewisses Gefälle von Stadt zu Land. Auch Barbara Stucki hat diesbezüglich Erfahrungen gesammelt. Aufgewachsen in einem 1300-Seelen-Dorf im tiefsten Emmental war sie seinerzeit vorübergehend das Dorfgespräch, als ihre Homosexualität bekannt geworden war. «Bis auf eine einzige Ausnahme schlug mir damals dennoch keine einzige negative Reaktion entgegen», erinnert sie sich. Tendenziell hat sie aber den Eindruck, dass die Menschen in der Stadt dem Thema gegenüber offener sind – «wenigstens vordergründig», relativiert sie. «Immer wieder stelle ich nämlich fest, dass die Leute in der Stadt letztendlich dieselben Vorurteile in sich tragen wie diejenigen auf dem Land.»
Unterm Strich aber zeichnen Barbara Stuckis persönlichen Erfahrungen ein hoffnungsvolles Bild, zumal sie in ihrer Heimat und in ihrem Umkreis von vielen Seiten her eine gewisse Betroffenheit registrierte, wenn sie den Menschen erzählte, wie viel Mut und Überwindung ein Coming-out erfordere. «Aus den Gesprächen im Zusammenhang mit meinem Coming-out ergaben sich in der Regel tiefgründige Unterhaltungen über Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte», erinnert sich die Politikerin. «Wunderschön war, dass ausnahmslos alle sich freuten, als ich ihnen ein paar Jahre später meine heutige Verlobte vorstellen und von meiner ersten, sich vollkommen anfühlenden Liebe erzählen konnte.»