Manege frei für Martin Ender
Der Name Martin Ender ist in der hiesigen Gay-Szene – und darüber hinaus - beinahe untrennbar mit dem Cruiser verbunden, war Martin doch rund 15 Jahre dessen Chefredaktor. Er leitete die Zeitung wie ein ehrwürdiges Dampfschiff neben Yachten und Nussschalen durch wilde Gewässer, denn zu jener Zeit änderte sich der Zeitungsmarkt als auch die Gay-Community gewaltig. Und nicht wenige Male wurde der Cruiser damals abgeschrieben. Aber Martin wusste mit diesen Stimmen umzugehen, blieb unbeirrbar und setzte auf sein Konzept. Die Freude am Zeitungsmachen blieb stets an erster Stelle. Martin hätte mehrmals Gelegenheit gehabt, seine Erfahrung und seine glitzernde Vergangenheit mit heroischer Zielstrebigkeit ins Feld zu führen. Er hätte mit Recht wie ein Löwe in seinem Revier auftreten können, doch daran lag ihm herzlich wenig. Manche würden von einem Understatement sprechen - oder dem Vergnügen, unterschätzt zu werden. Folgende Zeilen sollen aber seine vielen Talente ins Scheinwerferlicht rücken.
Martin war das jüngste von vier Geschwistern in einer angesehenen und katholischen Familie aus Muri im Kanton Aargau. Sein Vater war Rektor; die Mutter stammte aus einer Ärztefamilie. Zusammen mit seinem Bruder musste Martin beim eigenen Vater die Schulbank drücken – was unter Kollegen nicht gerade für Beliebtheitspunkte sorgte, dafür Bestnoten brachte. Mit einem Abschluss vom Kollegium Sarnen in der Tasche, zog es Martin an die Universität Zürich, um Germanistik zu studieren. Doch so sehr er die Sprache liebte, so sehr missfiel es ihm, die gleiche Karriere wie sein Vater anzustreben. Folglich brach Martin das Studium ab. Viel gewonnen hat er in dieser Zeit trotzdem: 1967 traf er in einigen Vorlesungen auf Walter Lindor Joss, einen aufstrebenden Tänzer der Ballettakademie. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Zunächst legte Martin aber den Grundstein für seine Karriere als Schreiberling und startete in Zürich als Werbetexter durch, während Walter sich als Tänzer und Artist in der österreichischen Zirkusszene einen Namen machte. 1975 drehte Martin der Werbung jedoch den Rücken zu, um näher bei seinem Freund zu sein, der damals mit dem Bruder gewagte Luftnummern im Zirkus Sarrasani aufführte. Martin hätte wohl in der Pause auch Würstchen verkauft, doch das Schicksal hatte andere Pläne: Als in den ersten Wochen der Sprechstallmeister ausfiel, sprang Martin kurzfristig ein. Seine Stimme kam an, insbesondere seine Art der Ankündigung, in welcher er auf jegliche Art der Superlative verzichtete, sondern charmant und souverän die Kollegen auf die Bühne rief.
Neugierig wie er war, dauert es nicht lange und er kannte alle Abläufe im Zirkus wie kein anderer. Als 1981 der Bühnenpartner von Walter bei einer Nummer verunfallte (und mit 26 Brüchen relativ «glimpflich» davon kam), fühlte Martin sich bei Walter «zu Höherem berufen»: Gemeinsam wollten sie im Zirkus Roncalli eine neue Luftnummer zum Besten geben: Ohne Sicherheitsnetz sollten beide hoch über den Zuschauern ihre Pirouetten drehen. Walter war skeptisch - aber auch beeindruckt, denn sein Freund erwies sich als äusserst hart im Nehmen. Es benötigte ein dreimonatiges Training und der erste Auftritt vor Publikum geriet zur Sensation.
Martin und Walter waren sprichwörtlich ganz oben angekommen und traten nicht nur in diversen Arenen auf, sondern auch im Fernsehen. Über zehn Jahre hinweg wirkten sie als Coaches vor einem Millionenpublikum bei der Show «Stars in der Manege» mit und trafen dort auf Grössen wie den Schauspieler Peter Fonda, den Politiker Franz Josef Strauss oder die Diva Zsa Zsa Gabor – um nur wenige zu nennen. So war Martin fast zehn Jahre hinweg in der Luft ebenso zuhause, wie auf dem roten Teppich. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, auch im übertragenen Sinne abzuheben, aber er und Walter behielten auch oben in den Seilen die Bodenhaftung. Gegen Ende der 1980er Jahre erkannten beide, dass sie ihre Luftnummern nicht mehr toppen würden und sagten fast ohne Reue dem Zirkusleben Adieu. Trotz vieler Jahre auf Tournee fand Martin wieder Anschluss in der Werbung. Es war die Zeit, als in Zürich das T&M und das Polygon für Furore sorgten und Martin deren Inserate gestaltete, während Walter eine neue Aufgabe als Kostümschneider der jeweiligen Travestie-Shows verfolgte. Es war auch jene Zeit, als mit dem Cruiser ein unscheinbares Szene-Blättchen auf den Markt kam. Und durch die Inserate, die Martin dafür kreierte, kam er mit den Jahren der Zeitung immer näher, bis er schliesslich als deren Chefredaktor die Zügel selbst in der Hand hielt.
Martin erwies sich als Glücksfall für den Cruiser. Er achtete die verschiedenen Richtungen innerhalb der Szene und gab jenen eine Stimme, die sie verdienten. Er scheute sich nicht, brisante wie politische Themen zu behandeln, auch wenn das bedeutete, gewisse Inserenten und Persönlichkeiten würden Zeter und Mordio schreien. Beim Blick auf die Vergangenheit wird klar: Wer sich hoch über dem Boden behaupten kann, den haut in den Niederungen der Presse nichts um. Seinen Mitarbeitern gegenüber war er immer loyal, offen und zu jeder Zeit ein verständnisvoller und interessierter Freund – oftmals auch fernab der Schreiberei.
Ende 2014 beschloss er, sich mehr auf sein Privatleben zu konzentrieren und das Zepter des Chefredaktors an Haymo Empl zu übergeben. Sporadisch wollte er noch Artikel schreiben, aber es zog ihn immer öfter ins Bündnerland. Dort hatte er ein Haus, das er selbst mitrenovierte. Seit drei Jahren mit Walter in registrierter Partnerschaft eingetragen, gab es für ihn noch viele schöne Dinge, die er tun wollte. Das Schicksal aber hatte wiederum andere Pläne. Martin verstarb unerwartet am 16. April 2016.
Als sein ehemaliger Stellvertreter werde ich Martin als Weggefährten und Freund von ganzem Herzen vermissen und bin von grosser Dankbarkeit erfüllt, wenn ich an ihn denke.
Manege frei, lieber Martin, lebewohl.