Niemand braucht Schutz vor Sex – aber Schutzstrategien, Selbstwert und die Lust auf neue Erfahrungen. Damit das für möglichst viele Jugendliche möglich ist, setzt die Aids-Hilfe Schweiz 2019 einen Fokus auf junge schwule und bisexuelle Männer.
Florian Vock, Aids-Hilfe Schweiz
Dank der Kämpfer*innen der ersten Stunden und drei Jahrzehnten Engagement steigt die Generation der jungen Schwulen heute recht gelassen zum ersten Mal ins fremde Bett – zumindest, wenn es um Aids geht.
Die Generation, die heute zum ersten Mal schwulen Sex hat, kennt Aids aus der Sexualaufklärung in der Schule, aber nicht mehr aus der traurigen Erfahrung, dass Freunde daran sterben. Das verändert die Community und die Sexualität von jungen Schwulen und Bisexuellen. Überhaupt verändern sich Identitäten und Praktiken – jede Generation hat ihre kulturellen, sozialen, ökonomischen und persönlichen Fragen, Begriffe, Eigenheiten.
Wer der jungen Generation von heute die nötigen Ressourcen für ein positives Gesundheitsverhalten geben will, kann die jeweilige spezifische Situation nicht ignorieren oder sogar leugnen.[1] Die Aids-Hilfe Schweiz will die Jungen ernst nehmen.
Statistisches Pech
Viele Jugendliche und junge Erwachsene sind bei den ersten sexuellen Erfahrungen noch nicht so gut informiert, wie sie es fünf Jahre später sind. Schwule und bisexuelle Jugendliche haben aber einen statistischen Nachteil beim Sex: Die Chance, sich beim Sex mit Männern mit HIV/STI anzustecken, ist grösser als beim Hetero-Sex.
In der Schweiz leben etwa 80'000 Männer, die Sex mit Männern haben. 10.2% davon sind HIV-positiv.[2] Der grösste Teil der HIV-Positiven ist unter erfolgreicher Therapie und steckt darum niemanden mit HIV an, auch nicht beim Sex.
Nichtsdestotrotz müssen sich alle Männer, die Sex mit Männern haben, einer Tatsache bewusst sein: 1 von 45 Sexpartnern kann HIV übertragen, weil der Virus nicht entdeckt bzw. nicht oder ungenügend behandelt ist. Diese durchschnittliche Quote von 2.2% liegt in zwei Städten höher: Zürich 3.5% und Genf 3.3%.[3]
So kommt es, dass 11% der neuen HIV-Ansteckungen in der Schweiz bei den 15- bis 24-Jährigen Männern passiert und 34% bei den 25- bis 34-Jährigen.[4]
Keine gesunde Generation …
Während wir heute im Bereich HIV/STI mit Gelassenheit unsere Aufgaben erfüllen, ist es umso wichtiger, eines nicht zu vergessen: Wer im Verlauf seiner Kindheit und Jugend Stigmatisierung, Abwertung und Diskriminierung erlebt, hat durchschnittlich einen schlechteren Gesundheitszustand.[5]
Konkret: Bei homo- und bisexuellen Menschen ist die Wahrscheinlichkeit, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, mindestens 1.5-mal höher als bei heterosexuellen Menschen.[6] 6% der schwulen und bisexuellen 20-Jährigen haben in den letzten 12 Monaten einen Suizidversuch gemacht – bei den heterosexuellen sind es 1.2 von 100, also 5-mal weniger.[7]
… aber eine, die für sich sorgen will
Die Generation der jungen Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transmenschen ist nicht gesund. Aber sie weiss sich zu helfen. Auch in der Zeit von Grindr und Tindr gibt es noch Jugendgruppen, Partys und Wochenende. Angebote der «Milchjugend», von «du-bist-du» oder lokalen Gruppen zeigen, dass auch die heutige Jugend ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt und sich den Raum schafft, den sie braucht.
Institutionen und Angebote müssen sich ebenso weiterentwickeln: «Nimm ein Kondom» reicht nicht als Tipp. Sexuelle Gesundheit ist so viel mehr: Schutzstrategien und sexuelle Vorlieben müssen zueinander passen. Wer nur kuscheln will, braucht kein Kondom. Wer bare ficken will unter Umständen schon. Beide brauchen eine Schutzstrategie, die für sie Sinn macht.
Übervorsichtig und risikoreich
Manchmal scheitert es aber schon vorher: bei den Fakten. Wobei das nicht besonders für Jugendliche, sondern für viele gilt, die Sex haben. Schwule haben Oralsex mit Kondom, um sich vor HIV zu schützen und meinen dann, das schützt auch vor Tripper. Beides ist verkehrt: HIV kann beim Oralsex nicht übertragen werden. Und Tripper kann beim Zungenkuss genauso wie beim Rimming übertragen werden.
Am falschen Ort übervorsichtig und trotzdem risikoreich: Junge Erwachsene sind sexuell aktiv und schützen sich nicht immer vor HIV/STI. Die richtigen Infos kommen nicht bei ihnen an.
Weiterentwickeln der Präventionsarbeit
Hier will die Aids-Hilfe Schweiz anpacken: Schwule und Bisexuelle müssen Infos bekommen, wenn sie es brauchen. Prävention funktioniert nicht isoliert – sie muss immer im Kontext des Lebens passieren: an der Party, der Schule, auf Grindr oder mit dem Jugendmagazin.[8]
Wir wollen junge Schwule und Bisexuelle auch überzeugen, dass es Sinn macht, sich mit seiner Gesundheit zu befassen. Regelmässig im Checkpoint zum Test, am richtigen Ort nachfragen, bewusst nein und ja sagen zu sexuellen Praktiken; überhaupt zu seinem Körper und seiner Seele Sorge tragen. Es gibt viel zu tun.
Das bringt Veränderungen mit sich: Die Kampagnen der Aids-Hilfe Schweiz werden gezielt auch auf Plattformen umgesetzt, wo die Gruppe der 16- bis 25-Jährigen zu erreichen ist. Mitarbeitende werden geschult und Kooperationen mit Jugendorganisationen gefördert.
Darüber hinaus geht es aber darum, diese Generation besser zu verstehen. Sind die Preise für das Testing zu hoch? Wissen Jugendliche überhaupt, dass sie sich testen lassen sollen und können? Wie schätzen sie ein Risiko ein? Wie haben sie Sex, wenn die Eltern es auf keinen Fall erfahren dürfen?
Eine Fokusgruppe der Aids-Hilfe Schweiz wird in den kommenden Monaten solche Fragen diskutieren und Angebote auf ihre Jugendtauglichkeit überprüfen. Jugendliche werden darin gleichwertig Beiträge leisten wie Fachpersonen – miteinander reden, nicht übereinander.[9]
Sex haben!
Am Schluss geht es um eines: Jeder soll so viel Sex haben, wie er will. Entscheidungen beim Sex sollen bewusst getroffen werden – das braucht das nötige Wissen, um eine selbstbewusste Entscheidung zu treffen. Und es braucht auch Mut und Kraft, um selbstbestimmt zu sein.
Sexualität spielt zwischen Menschen und ist darum so spannend – neue Erfahrungen machen, Grenzen überschreiten und herausfinden, was gefällt. Das braucht manchmal ganz schön viel Vertrauen in den Sexpartner. Darum müssen wir eine sexuelle Kultur pflegen, in der die Grenzüberschreitung – wenn überhaupt – immer kontrolliert geschieht. Das heisst nicht, dass es keine schlechten Erfahrungen geben kann… denn manchmal wir etwas ausprobiert, um überhaupt erst herauszufinden, dass es nicht gefällt.
Ohne Community geht nichts
Hauptsache, Sex geschieht mit der Zustimmung aller Beteiligten. Eine solche Sex-Kultur braucht eine Community, wo das Nachfragen «Ist das OK für dich?» dazugehört und wo aufeinander geachtet wird.
Unsere Community ist ein Ort, wo soziale Normen und Erwartungen neu geformt werden. Junge Menschen landen in der Community, weil sie einen sicheren Platz suchen ohne Stigmatisierung und Abwertung, weil sie Freund*innen suchen, Sex und tolle Partys. Machen wir die Community zu einem solchen Ort!
Niemand braucht Schutz vor Sex – auch nicht junge Menschen. Entscheiden wir uns bewusst für Sex und ebenso für die richtige Schutzstrategie, ist Sex befreiend und lustvoll.
Auch wer neu dazu kommt, soll positive menschliche und sexuelle Erfahrungen in der Community machen dürfen. Die Community ist das Sicherheitsnetz. Zusammen fangen wir junge LGBT-Jugendliche auf und sorgen dafür, dass sie alle Mittel bekommen, die sie brauchen, um selbstbewusste und selbstbestimmte Mitglieder der Community zu werden.
Der Neue bei der Aids-Hilfe Schweiz
Der 28-jährige Badener Florian Vock arbeitet seit Januar 2019 bei der Aids-Hilfe Schweiz im Bereich MSM – Männer, die Sex mit Männern haben. Dazu gehören die grossen Testing-Kampagnen wie «Starman» und «Securion» oder die Mitarbeit bei drgay.ch. Weniger sichtbar, aber ebenso wichtig: Die Aids-Hilfe Schweiz koordiniert die Aktivitäten in der ganzen Schweiz, sorgt für den Austausch zwischen Wissenschaft und Community und unterstützt Projekte zur HIV- und STI-Prävention und überhaupt Engagement für die Gesundheit von schwulen und bisexuellen Männern.
Florian Vock selbst hat 2012 die Milchjugend mitgegründet und hat sich in den vergangenen Jahren in vielen LGBT-Kontexten engagiert, aktuell als Vorstandsmitglied von Pink Cross.
Ausserdem leitet er ehrenamtlich das «lila.queer festival», das vom 11. bis 13. Oktober 2019 in der Roten Fabrik Zürich stattfindet.
[1] Rhodes, Scott D./Wong, Frank Y. (2016): HIV prevention among diverse young MSM: Research needs, priorities, and opportunities. Aids Educ Prev. 2016 June;28(3):191-201.
[2] Schmidt AJ, Altpeter E. (2019): The Denominator problem: estimating the size of local populations of men-who-have-sex-with-men and rates of HIV and other STIs in Switzerland. Sex Transm Infect 2019;0:1-7.
[3] Schmidt AJ, Altpeter E. (2019): The Denominator problem: estimating the size of local populations of men-who-have-sex-with-men and rates of HIV and other STIs in Switzerland. Sex Transm Infect 2019;0:1-7.
[4] Bundesamt für Gesundheit (2018): BAG Bulletin 47 vom 19. November 2018.
[5] Gesundheitsförderung Schweiz (2017): Faktenblatt 19: Geschlechtliche und sexuelle Minderheiten in Gesundheitsförderung und Prävention
[6] Gesundheitsförderung Schweiz (2017): Faktenblatt 19: Geschlechtliche und sexuelle Minderheiten in Gesundheitsförderung und Prävention
[7] Wang, J. et al. (2014): Psychiatric disorders, suicidality, and personality among young men by sexual orientation. European Psychiatry 2014 Oct;29(8):514-22.
[8] National LGBT Health Education Center (2014): Best Practices in HIV Prevention: Translating Innocation into Action.
[9] Rhodes, Scott D./Wong, Frank Y. (2016): HIV prevention among diverse young MSM: Research needs, priorities, and opportunities. Aids Educ Prev. 2016 June;28(3):191-201.