An der Regenbogenflagge und ihren Kolleginnen entbrennen heftige Diskussionen über Vielfalt in der Community. Warum ist das so? Ein Erklärungsversuch.
Ein Stöhnen und Seufzen geht durch die Community. Vor allem cis Schwule und Lesben, vor allem Leute, die seit den 80ern oder 90ern oder seit noch wilderen Urzeiten Aktivismus betreiben, murren und brummeln. Stein des Anstosses?
Buntgestreifte Stoffrechtecke, auch bekannt als Pride-Flaggen. Manchmal auch Buchstaben. Bezeichnungen wie «pansexuell», «demiromantisch», «genderfluid». Die Tatsache, dass sich unter dem Regenbogen (oder im LGBT+-Kürzel) immer mehr Identitäten und Labels versammeln, ist für einige Leute offenbar schwer auszuhalten. Warum?
Die häufigste Beschwerde zielt auf die eigene Bequemlichkeit. Wer soll sich das alles merken? Man wünscht sich Zeiten zurück, in denen «schwullesbisch» das Maximum an Vielfalt abbildete und (angeblich) alle damit zufrieden waren. Und einige machen sich auch Sorgen. Früher «schwullesbisch», dann «LGBT» und bald «LGBTQIAAPPNDGQ»? Und hat die Regenbogenflagge nicht ohnehin alle Farben?
Früher war alles einfacher
Ein nachvollziehbarer Punkt. Ich fand die Welt auch einfacher, als ich mich im Café noch nicht zwischen Hafermilch, Mandelmilch, Sojamilch, laktosefreier und laktosehaltiger Kuhmilch entscheiden musste. Andererseits: Die Auswahl nützt einer Menge Leuten, etwa Veganer*innen oder Laktoseintoleranten. Und den Gruppierungen, die ihre Flagge zeigen oder ihren Buchstaben einfordern, bringt es ganz konkrete Sichtbarkeit für ihre Anliegen. Wer bi, pan, asexuell oder trans ist, sucht derzeit fast immer vergeblich – etwa in der Berichterstattung über die Prides – danach, irgendwo erwähnt zu werden. Häufig sind LGBTQ-Anliegen als «Ehe für alle» oder schlimmer «Homo-Ehe» zusammengefasst. Mit dieser Ausgangssituation ist es absolut notwendig, laut und sichtbar zu sein.
Eine zweite Beschwerde, die ich eher zwischen den Kommentarzeilen lese, ist ein Unwohlsein darüber, dass die «neuen» Labels irgendwie hipper und spezieller und interessanter sind und man als cis Person, die mit einem «L» oder «G» treffend beschrieben ist, schon fast in den Verdacht gerät, langweilig zu sein.
Dieses Unwohlsein kenne ich von Heteros, die sich darüber beklagen, dass ja heutzutage überall und ständig über Homosexualität (bi wird eher nicht erwähnt) berichtet werde, und denen mit dieser wachsenden Präsenz im gesellschaftlichen Diskurs nicht wohl ist. Sie fürchten vage, weniger Aufmerksamkeit zu erhalten. Dabei verkennen die Heteros völlig, dass die Bekanntheit und die Sichtbarkeit von Heterosexualität viel grösser sind und Heterosexualität noch klar als Norm gilt, etwa die Erwartung, dass ein beliebiger Mensch hetero ist, solange er kein Coming-out macht. Und genauso geht es in der Community den meisten Lesben und Schwulen. Am meisten natürlich den Schwulen, weil Männer gesamtgesellschaftlich als Norm gelten. Das zeigt sich besonders schön daran, dass noch nie ein*e Journalist*in auf die Idee gekommen ist, den Pride-Umzug als «Lesbenparade» zu bezeichnen. Schwulenparade wird dagegen heute noch verwendet. «Schwule und Lesben» sind in der Community weitaus sichtbarer als Transpersonen, Bisexuelle, Asexuelle oder Aromantische, sichtbarer als Untergruppen wie Demisexuelle oder Non-Binary-Personen sowieso.
Drittens verändert es Selbstverständlichkeiten: Aus einer Person, die sich früher unbedarft als «schwuler Mann» bezeichnet hätte, wird ein schwuler cis Mann, der ausserdem dya (nicht intergeschlechtlich) und allosexuell (nicht asexuell) ist – ganz so wie meine Milch plötzlich «laktosehaltige Kuhmilch» heisst. Das Ende dieser Selbstverständlichkeit ist realistisch betrachtet aber gar nicht in Sicht. Wenn ich «Milch» sage, dann ist niemand unsicher, ob ich vielleicht Hafermilch meine. Genauso verstehen unter «lesbisch» die meisten Menschen eine Person, die bei der Geburt als Mädchen zugeordnet wurde und andere cis Frauen (auch) sexuell begehrt.
Viertens kommt häufig die Frage, wie man denn all diese Identitäten einer Mehrheitsgesellschaft (vulgo: Heterowelt – die eigentlich eine hetero-cis-allo-dya Welt ist) noch verständlich machen soll. Wenn doch noch nicht einmal «schwullesbisch» flächendeckend akzeptiert ist. Dieser Punkt klingt plausibel, ist er aber nicht. Wenn ich beispielsweise einmal dabei bin, «hetero» als alleinige sexuelle Orientierung herauszufordern, ist es egal, ob ich das nur für monosexuelle oder auch für bi-, pan- und asexuelle oder auch polyamore Personen gleich mitmache (ja, es ist möglich, mehreres davon zu sein, z. B. asexuell, pan und poly). Und wenn ich einmal dabei bin, zu erklären, dass es Menschen gibt, denen bei der Geburt ein falsches Geschlecht zugeteilt wird, dann kann ich auch generell die biologistische Zuordnung und ihre Folgen diskutieren, die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen und erwähnen, dass Intergeschlechtlichkeit und non-binäre Geschlechter existieren und dass es Menschen gibt, die gar kein Geschlecht haben (agender).
Es stimmt, dass ein Slogan wie der frühere HAZ-Claim «Zürich liebt anders» für Transpersonen nicht funktioniert. Und es auch keine simplen Alternativen gibt. «Zürich lebt anders» klingt schon fast wie der gefloppte City-Slogan «Wir leben Zürich» und kann alle meinen und doch keinen treffen.
Alle für alle?
Die Angst, nicht unsere ganze Vielfalt anzusprechen, ist aber nur zur Hälfte die Angst vor sperrigen Slogans und umständlichen Formulierungen. Sie ist auch die Angst davor, die ohnehin wackelige gesellschaftliche Akzeptanz zu riskieren, wenn wir zu bunt, zu unübersichtlich, zu unkonventionell sind. Wer schon etwas länger dabei ist, kennt diese Angst: Es ist die gleiche Angst wie vor der Dragqueen auf dem CSD-Foto. Wenn wir nicht brav, angepasst, spiessig und nachvollziehbar sind, dann ist möglicherweise nichts mehr mit breiten Bündnissen und politischer Unterstützung aus allen Lagern. Leute sind möglicherweise bereit, Schwule und Lesben zu akzeptieren. Aber Bisexuelle? Asexuelle?
Und hier ist der letzte Punkt, weshalb die vielen Flaggen und Buchstaben Menschen verärgern. Auch in der Community gibt es Leute, die auf trans, bi, non-binär, asexuell etc. genauso reagieren, wie der Papst auf Schwule und Lesben: Ist eine Verfehlung, darf es nicht geben, kenne ich nicht, glaube ich nicht, ist doch sicher irgendwie krank, mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben.
Die Erfahrung, selbst so behandelt worden zu sein, bewahrt einen offensichtlich nicht davor, genauso zu handeln. Genauso Dinge abzuwerten, die man nicht kennt und die einen nicht betreffen. Und Kämpfe um Akzeptanz und Sichtbarkeit, die andere Gruppen führen, nicht nachvollziehen zu können, obwohl man selbst solche Kämpfe führt und wissen sollte, wie wichtig sie sind.
Vielfalt ist unsere Stärke
Gemeinsam sind wir aber stärker und reicher. Im Austausch miteinander erkennen wir, dass wir gleich und verschieden sind. Dass wir von unseren Erfahrungen lernen können und dass uns Vielfalt auch davor bewahrt, nur für unseren Teil des Kuchens zu streiten – statt für gleiche Rechte für alle. Und wir können die Mechanismen erkennen, mit denen Mehrheiten zu allen Zeiten Minderheiten unter Druck setzen. Die Welt hat genug Platz für alle möglichen Farben, Fahnen und Identitäten. Zusammenhalt und Verschiedenheit sind kein Entweder-Oder. Sondern ein solidarisches Sowohl-als-Auch.