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ESC-News: Ne partez pas sans moi!

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Die Schweiz und der Eurovision Song Contest – eine Hass-Liebe par excellence. Und noch immer spannend: Warum Rykka in Stockholm Chancen auf Punkte hat und weshalb gerade in diesem Jahr die Politik eine wichtige Rolle spielt.

Während die hiesige schwule Fan-Gemeinde den Eurovision Song Contest (ESC) als «ihre» fünfte Jahreszeit feiert, wird spätestens beim Blick in die sozialen Medien klar: Der Musikwettbewerb ist in der breiten Bevölkerung gleichermassen unbeliebt. Wasser auf die Mühlen der Kritiker ist reichlich vorhanden. So werden immer wieder die Finanzen ins Feld geführt, insbesondere von zahlungsunwilligen Billag-Kunden. Dabei ist der ESC ein «Schnäppchen»: Das Schweizer Fernsehen (SRF) bezifferte die Kosten im letzten Oktober im Schnitt auf 96'000 Franken (Shows wie «Happy Day» verbrauchen hingegen regelmässig über 800'000 Franken pro Folge). Die Absenz der Crème de la Crème der helvetischen Musikszene - mit wenigen löblichen (wie gescheiterten) Ausnahmen - wird ebenfalls als Qualitätsmangel empfunden.

Wir erinnern uns alle daran, wie Gunvor Guggisberg am Eurovision Song Contest 1998 Schiffbruch erlitt. Keinen müden Punkt ersang sie für die Schweiz; ihr Song «Lass ihn» floppte auf der ganzen Linie

Die vielen Nullnummern sollen zudem beweisen: Die Schweiz ist beim ESC das dicke Kind, das im Turnunterricht immer zuletzt in die Gruppe gewählt wird (was durchaus wieder Sympathien mit sich bringt). Zumal die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied politisch abgestraft werde, doch dazu später. Und schliesslich ist da noch das konfuse Auswahlverfahren bei SRF selbst: Unzählige Bewerber per Video-Clip auf der Webseite ins Rennen zu schicken, ist mutig. Die Mobilmachung vieler der Musiker beängstigend und die finale Show verlangt dank unsinniger Coversong-Runde viel Tapferkeit von Zuschauer und Jury.

Am Ende ist das nur Futter für Miesepeter. Der ESC besitzt eine unwiderstehliche Strahlkraft. Wenn jedes Jahr fast alle Länder Europas ihre Abgesannten singen lassen, ist das spannend, spassig und teilweise schmerzhaft – aber auch ein Fenster in des Nachbars Leben. Ein willkommener Voyeurismus, getarnt mit Glitzer, Pomp und Schadenfreude. Nicht zuletzt ist die finale Punktevergabe das Kult-Element schlechthin. Dieses Abstimmungsverfahren wird im Übrigen radikal erneuert, um die Spannung zu erweitern. Jury- und Zuschauerwertungen sind nun voneinander getrennt. Jedes Land kann einem Teilnehmer maximal 24 Punkte geben - zwölf durch die Jury, zwölf durch die Zuschauer; diese werden separat bekanntgegeben.

Erfolgreiche Bilanz für die Schweiz

Man liebt oder hasst den ESC und darf aber eingestehen, dass der «Grand Prix Eurovision de la Chanson», wie er hierzulande noch liebevoll genannt wird, seit seinem Bestehen im Jahre 1956 der Schweiz doch einige Erfolge brachte. Gleich der erste Triumph gelang – hinreichend bekannt – der Rupperswilerin Lys Assia, beziehungsweise den Komponisten Géo Voumard und Emile Gardaz. Noch heute geistert die scharfzüngige Assia an vielen ESC-Veranstaltungen als Ikone der Vergangenheit umher.

Es sollte 32 Jahre dauern, bis wieder ein Sieg gefeiert werden konnte, wobei die Schweiz sich in Zwischenzeit meist auf den vorderen Plätzen wiederfand. Etwa mit Esther Ofarim 1963 auf Platz 2, oder Paola 1980 auf Platz 4. 1988 dann, mit nur einem Punkt Abstand (!), eroberte Céline Dion mit «Ne partes pas ans moi», geschrieben von Nella Martinetti und Atilla Sereftug, die Herzen Europas. Auch wenn Dion das Lied in ihrer Autobiographie später als «hochtrabend» bezeichnete, startete sie damit ihre Weltkarriere.

Als Kanadierin damals quasi «eingekauft», sorgte das für einigen Unmut, ist heute beim ESC aber gang und gäbe. Da die Schweiz und Kanada ein erfolgreiches Paar abgeben, wurde bereits 1993 der nächste Import ins Rampenlicht gestellt: Annie Cotton aus Montreal erreichte mit «Moi, tout simplement» den dritten Platz. Danach begann die bis heute anhaltende Durststrecke, in welcher nur die estnische Girl-Group «Vanilla Ninja», Anna Rossinelli und Sebalter so etwas wie Erfolge erleben durften.

Kanada soll’s richten

Das Positive an der im Februar gesendeten ESC-Entscheidungs-Show auf SRF war, dass sich Jury und Publikum für die Erfolgsformel mit Kanada ausgesprochen haben. Sängerin Rykka aus Vancouver reist für uns nach Stockholm. Sie hat aber Schweizer Wurzeln, wohnt heute bei Zürich in Meilen und hat mit ihren 29 Jahren bereits Erfahrung in der Musikbranche. Und ihre Chancen stehen nicht schlecht, auch wenn sie ab und an hauchdünn den Ton verfehlt (so geschehen in der SRF-Entscheidungs-Show). Punkte könnte der Song «The Last of Our Kind», welchen Rykka selbst zusammen mit Mike James, Jeff Dawson und Warne Livesey geschrieben hat, durchaus erhalten: Eine nicht zu pompös aufgetragene Ballade mit einnehmendem Refrain. Bei der Komposition standen zudem eindeutig Sia und Lorde Pate.

Und weil das Auge gerade am ESC bekanntlich mithört, gibt Rykka dabei die süsse Comic-Version einer Marilyn Monroe. Passend im weissen Kleidchen und platinblondem Haar; nicht zu freizügig, versteht sich, aber auch kein Mauerblümchen. Ein Erfolgsmodell, das schon Kylie Minogue anwendete: Mädchen möchten sie neu anziehen, Jungs möchten sie gerne ausziehen – alle haben Freude daran. So könnte es Rykka durchaus schaffen, im zweiten Semifinale zu punkten und ins Finale in Stockholm einzuziehen.

Die Konkurrenz

Rykka kann es auf alle Fälle mit der Konkurrenz im zweiten Semi-Finale aufnehmen. Sie tritt etwa gegen Australien an. Tatsächlich scheint Down Under nun fester Bestandteil der Eurovision zu sein und schickt mit Sängerin Dami Im eine X-Factor-Gewinnerin und Chart-Stürmerin ins Rennen – die grösste Rivalin. Auch Agnete aus Norwegen gehört zu den weiblichen Favoriten – ihr Song «Icebreaker» steht musikalisch in direkter Konkurrenz zu Rykka – die Natürlichkeit lässt Agnete aber nicht nur an ihrem Auftritt vermissen. Daneben gibt es beispielsweise leicht überwindbaren Indie-Rock aus Georgien von Nika Kocharow oder austauschbaren Pop des Polen Michal Szpak.

Sollte es Rykka ins Finale schaffen, steht sie dort den sechs bereits gesetzten Teilnehmern gegenüber – jene Glücklichen, deren Land den Löwenanteil der Kosten am Wettbewerb übernimmt. Deutschland setzt auf die blutjunge Veganerin Jamie Lee Kriewitz, deren Liedchen «Ghost» Xavier Naidoo schmerzlich vermissen lassen wird. Das Vereinigte Königreich präsentiert das Duo Joe & Jake mit «You’re not Alone» und bietet wenig Neues, ausser dem kläglichen Versuch, Mädchenherzen zu brechen. La France setzt auf den schönen Amir, der mit «J’ai cherché» beinahe schamlos an unseren Sebalter erinnert, während Italien ganz der Geheimwaffe «San Remo» mit der Sängerin Francesca Michielin vertraut. Spaniens Beitrag hingegen fällt ab: Deren Solistin namens Barei dürfte mit dem lauen Dancefloor-Song «Say Yay!» gnadenlos durchfallen.

Das alte politische Lied

Doch ob Trash oder Perle, ob peinlich oder grandios – es kann der Frömmste nicht in Frieden singen, wenn es der bösen Politik nicht gefällt. In diesem Jahr dürfte der ESC wie noch nie unter dem aktuellen Weltgeschehen leiden. Die Schweiz kann davon buchstäblich ein Lied singen. Als Insel in Europa galt sie lange als absolutes No-Go, egal welche Qualität die eingereichten Song hatten. Neid und Missgunst über die Sonderstellung in Europa schrieben sämtliche Noten regelmässig um. Heuer wird das die Flüchtlingskrise tun. Grenzen und Mauern könnten den unbeschwerten Hörgenuss zunichte machen.

Liest man im Kaffeesatz, so dürfte Deutschland mit seiner «Willkommens-Kultur» und deren Folgen keinen einzigen Punkt einfahren. Ebenfalls könnte es beängstigend sein zu erleben, wie sich die Länder der sogenannten Balkanroute gegenseitig bewerten. Russland dürfte Polen auf das Podest heben, da die dortige Regierung den Rechtsstaat auszuhebeln versucht. Ob dabei die Ukraine, die nach einem Jahr wieder teilnimmt, mitreden wird? Und schlussendlich die bange Frage, wie und ob das musikalische Europa auf «Grexit» und «Brexit» reagiert?

Die Schweiz dürfte in dieser mit Spannung aufgeladenen Situation für einmal Oberwasser gewinnen – die vermeintlich friedliche Insel mit ihrer weissen Fee namens Rykka, die wie einst Nicole vom Frieden und von den letzten ihrer Art singt. Das könnte Erfolg bringen, so verstörend sich das anhören mag. Aber schliesslich greifen wir nach jedem Strohhalm, der sich uns bietet, um am ESC wieder brillieren zu können. Denn unser Schlachtruf ist der von Céline Dion: Ne partez sans moi!

Eurovision Song Contest 2016

Der 61. Eurovision Song Contest findet in der Schwedischen Hauptstadt Stockholm statt, nachdem im letzten Jahr Måns Zelmerlöw für das Land gewonnen hat. Der Sänger wird zusammen mit der Moderatorin Petra Mede in der Ericsson Globe-Arena die drei Live-Shows präsentieren; alle werden von SRF übertragen:

1. Semi-Finale: Dienstag, 10. Mai

2. Semi-Finale: Donnerstag, 12. Mai – mit Rykka

Finale: 14. Mai


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