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Schwulengeschichte: "Sittlich nicht einwandfrei..."


«Sittlich nicht einwandfrei» – Homosexualität und Psychiatrie in der Erziehungsanstalt

Sexualität war in schweizerischen Erziehungsanstalten bis in die Jahre um 1970 ein Tabuthema. Am Beispiel der Anstalt Aarburg zeigt sich, dass die Problematisierung der jugendlichen Sexualität oftmals mit einer Wertung von Homosexualität einherging.

Homosexuelle Kontakte waren in nach aussen abgeschlossenen Institutionen mit gleichgeschlechtlichem Klientel wie etwa Klöster, Kasernen und Erziehungsanstalten bis weit ins 20. Jahrhundert ein Dauerthema – und zwar meistens dann, wenn es darum ging, diese verpönten Aktivitäten zu ahnden. In einer Anstalt für männliche Jugendliche war dieses sexuelle Problem wohl umso dringlicher, standen doch die Adoleszenten in der Blüte ihrer erwachenden Sexualität. Schon Robert Musil schrieb 1903 in «Die Verwirrungen des Zöglings Törless»: «Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden, stauten sie die Phantasie voll wahllos wollüstiger Bilder, die manchem die Besinnung raubten.» Und Musil musste es wissen, schliesslich hatte er selbst seine Jugendjahre in Militärakademien zugebracht.

Verbotene Sexualkontakte

Auch in der Erziehungsanstalt Aarburg (Kanton Aargau), darauf lassen die Akten schliessen, waren verbotene Sexualkontakte unter den internierten Jugendlichen an der Tagesordnung. Hinweise darauf liefern bereits die autobiografischen Erzählungen zweier ehemaliger Zöglinge, die sich in den 1920er Jahren auf der Festung Aarburg befanden. Jenö Marton lässt in «Zelle 7 wieder frei…!» (1936) den einen Zögling zum anderen sagen: «Meine Freundschaft mit Vogelsang war den Herren nicht genehm. Du kennst ja noch den Vorfall letztes Jahr mit Buschkopf und Zingg. Die Anstalt müsse solche Elemente ausmerzen. Jetzt sehen die ‹solche Elemente› in jeder Freundschaft.» Mit «solchen Elementen» waren offensichtlich Homosexuelle gemeint.

Sehr oft war die sexuelle Entwicklung und generell das Sexualverhalten des «Exploranden» ein wichtiger zu klärender Punkt in diesen psychiatrischen Expertisen. Auch wurden Jugendliche oftmals psychiatrisch begutachtet, wenn die Anstaltsleitung von sexuellen Interaktionen mit anderen Zöglingen erfuhr.

Verkehr mit 28 Kameraden

Drei umfassende interne Untersuchungen, die in Aarburg in den Jahren 1939, 1949 sowie 1958 geführt wurden, protokollieren die Art, die Häufigkeit und das Ausmass der sexuellen Aktivitäten der Anstaltszöglinge jener Jahrzehnte. Losgetreten wurden die Affären stets durch einen Denunzianten, der Mitzöglinge anschwärzte. Im Laufe der Einvernahmen wurde jeweils rund ein Drittel der jugendlichen Belegschaft in die Affären involviert, was darauf schliessen lässt, dass ein nicht geringer Anteil der Anstaltszöglinge in homosexuellen Interaktionen einen durchaus adäquaten Ersatz zur Triebabfuhr sah. Nicht alle involvierten Jugendlichen wurden in der Folge psychiatrisch begutachtet.

 

Kevin Heiniger ist Historiker und als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen tätig. Seine Dissertation «Krisen, Kritik und Sexualnot. Die ‹Nacherziehung› männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893-1981)» ist im Chronos-Verlag erschienen.


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