Mit Fortsetzungen ist das ja so eine Sache: Viele Filme und Serien, von denen man begeistert den ersten Teil oder die erste Staffel gesehen hat, enttäuschen – nicht so die «Stadtgeschichten».
Als 1978 der erste Band von Armistead Maupins «Tales of the City» herauskam (auf Deutsch dann ab 1993 unter dem Titel «Stadtgeschichten»), waren diese zunächst ein Geheimtipp, dann ein have to read und zwar nicht nur in der queeren Community. Heerscharen von Studenten griffen immer wieder zu den Bänden der Reihe und identifizierten sich mit den reichhaltig vorhandenen Charakteren. Dies war um so einfacher, als dass die Geschichten jedwede Art von Charakter mit unterschiedlichen sexuellen Präferenzen bieten. Viele der Lesenden erlangten hier ihr queeres Basiswissen, erfuhren von AIDS und den Folgen, aber auch von einem offenen Lebensstil, der für viele letztendlich zu mehr Toleranz und Akzeptanz führte.
Armistead Maupin erlangte mit dieser Serie Weltbekanntheit und darüber ist er selbst erstaunt, ist er doch in einem homophoben Umfeld aufgewachsen und daher in seiner Jugend alles andere als tolerant. In seiner 2017 erschienenen Autobiographie «Logical family: a memoir» bezeichnet er sich selbst als Rassisten und Schwulenhasser – bis zu dem Augenblick, als er den ersten schwulen Sex hat. Denn nun steht er zu seiner sexuellen Ausrichtung und wird bald auch mit seinen Geschichten, die zunächst in der Zeitung erscheinen, zum Sprachrohr der Community.
Vom Roman zur Serie
Nach dem durchschlagenden Erfolg der Romanreihe erstaunte es 1993 nicht, dass HBO eine Miniserie, «Geschichten aus San Francisco» in Anlehnung an die Romane in Auftrag gab. Diese wurde 1998 und 2001 um «Sweet Home San Francisco» und «Further Tales of the City» erweitert. Auch hier ist die Barbary Lane 28 in San Francisco der Dreh- und Angelpunkt für die Handlung. Und nun hat sich also Netflix dazu entschlossen, eine Fortsetzung der Geschehnisse in der Barbary Lane 28 herauszubringen. So ängstlich hierauf die eingefleischten «Stadtgeschichten»-Fans reagiert haben mögen, so beruhigt können diese nun sein, denn das Autorenteam, in dem u. a. Lauren Morelli vertreten ist, die schon erfolgreich bei «Orange is the New Black» mitwirkte, haben alles richtig gemacht. In den zehn Folgen, die jeweils zwischen ca. 50 und 60 Minuten lang sind – solche Diskrepanzen kann man sich auch nur als Streamingdienst leisten -, trifft man auf viele alte Bekannte, die – und das ist besonders gelungen – zum Teil von den selben Darstellerinnen wie in den früheren Folgen dargestellt werden.
Homo-, bi-, trans-, pan...
Also: Die ehemaligen Bewohner der Barbary Lane um Anna Madrigal, früher und heute dargestellt von der souveränen Olympia Dukakis, haben immer noch bzw. immer wieder mit ihrem (Liebes-)Leben zu kämpfen. Dies tun sie mit allen Möglichkeiten, die die queere Community zu bieten hat. So muss sich die lesbische Margot zum Beispiel entscheiden, ob sie weiterhin mit ihrer grossen Liebe zusammensein will, obwohl diese nun eine Transition durchgemacht hat und somit ein Mann ist, der wiederum merkt, dass er nun offenbar auf Männer steht. Ganz schön kompliziert? Nein, eher sehr lebensnah, denn als Zuschauer ist man ebenso zwischen den Möglichkeiten und den daraus resultierenden Entscheidungen gefangen, wie es die Charaktere sind. Dies mag zum Teil auch an den grossartigen Darstellern liegen, neben Ellen Page, Paul Gross und Murray Bartlett taucht auch Laura Linney als Mary Ann Singleton erneut auf. Mary Ann, und damit Laura Linney, gehörte in den früheren Verfilmungen zum Stammpersonal, zog dann aber der Karriere wegen nach Connecticut und kehrt nun nach zwanzig Jahren zum 90. Geburtstag von Anna nach San Francisco zurück. Ob das eine gute Entscheidung ist, zumal sie gerade mitten in einer Midlife-Crisis steckt, muss sich erst noch erweisen. Vor allem, da sie nun ihrer Adoptivtochter Shawna (Ellen Page) erklären muss, warum sie damals aus deren Leben verschwunden ist, worauf Shawna erwartungsgemäss wenig begeistert reagiert.
Probleme auch in der Community
Es ist erstaunlich, wie es die Macher – die zehn Folgen benennen immerhin sechs Regisseur*innen – schaffen, nahezu sämtliche Themen von Rang und Namen im queeren Bereich zu thematisieren, ohne dabei in die abstossende und oftmals peinliche Klischee-Falle zu tappen. Im Gegenteil: Wenn zum Beispiel in Folge 4 Michael mit seinem jungen (schwarzen) Freund Ben zu einem Abendessen bei seinem Ex Harrison geht und Ben hier zwischen den Altschwuletten einen Eklat auslöst, weil er sich über das Wort Transe mokiert, das von den anderen hemmungslos gackernd benutzt wird, weiss man, dass man in unserer heutigen Gendersprachdiskussion angekommen ist. Als Ben dann aber von allen heruntergemacht wird, mit dem Argument, er sei viel zu jung, habe schliesslich nicht für schwule Rechte gekämpft und viele Freunde an AIDS verloren, mit dem Umkehrschluss, dass man dann so sprechen dürfe, erkennt man, wie wenig gleichgesinnt die Community ist und welche Gräben dort immer noch zu überwinden sind, sei es zwischen jung und alt, homo oder trans... Und gleichzeitig spürt man die Leichtigkeit, wenn DeDe im Whirlpool zur dreissig Jahre jüngeren Margot sagt: «Jetzt lebe ich schon seit dreissig Jahren in San Francisco und weiss immer noch nicht, was queer eigentlich bedeutet.» Mit dem Unterton: Es ist auch vollkommen egal, was es bedeutet, Hauptsache ich kann so leben, wie ich will und wie ich mich fühle.
Die einzelnen Folgen sind bis ins letzte Requisit durchkomponiert, seien es die kurz ins Bild fallenden AIDS-Medikamente oder das durch die Strassen laufende schwule Paar, hier könnte man vieles aufzählen. Dies macht das Schauen nicht immer einfach, will man wirklich alles erfassen, aber es ist immer unterhaltend.