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Eine gesellschaftliche Erkältung


Ein Virus namens Sars-CoV-2 erobert den Erdball. Michi Rüegg ist beunruhigt.

Doch er fürchtet sich weder vor Husten noch vor Lungenentzündung. Sondern vor den Nebenwirkungen der Epidemie.

Vor rund vier Jahrzehnten hat schon mal ein Virus die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Allerdings kann man zwischen HIV und Covid-19 nicht sonderlich viele Parallelen ausmachen. Ausser vielleicht, dass beide Erreger Ausgrenzung als Nebenwirkung haben. Damals war’s die Schwulenseuche, heute sitzen Asiatinnen im Zug allein im Viererabteil.

Ich muss zugeben, das neue Virus macht mir Sorgen. Nicht, weil ich fürchte, mich anzustecken. Im Gegenteil, ich überlege mir, ein Wochenende nach Mailand zu fahren, mich durch die Stadt zu knutschen und, wieder daheim, für zwei Wochen die Wohnungstür zu verbarrikadieren.


Nein, mein Unbehagen betrifft das, was es in der Gesellschaft auslöst. Die grösste Gefahr des neuen Corona-Virus liegt nicht in den Lungenentzündungen, die es auslösen kann. Sondern in der Art und Weise, wie es unser Zusammenleben angreift. Wobei ich hier einen Vorbehalt mache: Ich tippe diese Zeilen fast vier Wochen, bevor der Cruiser gedruckt vorliegt. Weiss der Teufel, was während dieser Zeit alles geschieht. Mein Gefühl sagt mir: So schnell sind wir den Scheiss nicht los.


Kurze Bestandaufnahme: Wir haben Anfang März. In der Schweiz sind Grossveranstaltungen verboten, der Kanton Zürich hat soeben nachdrücklich davon abgeraten, Anlässe «mit Körperkontakt» zu veranstalten. Im Rage macht man sich Sorgen um Fickpartys, zu denen Gäste aus Norditalien anreisen könnten.

Das Gebot der Stunde heisst «Social Distancing». Also Distanzhalten vor Mitmenschen. Die letzte Hand habe ich bereits vor einigen Tagen geschüttelt. Seither kommen mir meine Mitmenschen selten näher als eine Armlänge. Und im Bundeshaus stolziert Verhüllungsverbots-Befürworterin Magdalena Martullo-Blocher mit einer Maske umher, die sie wie eine herausgekotzte Disney-Figur aussehen lässt.


«Social Distancing» lässt mich erschaudern.

Seit ich offen schwul bin, küsse ich meine guten Freunde zur Begrüssung und zum Abschied. Gestern sah ich meinen ältesten Gay-Freund. Wir begrüssten uns mit einem freundlichen Kopfnicken. Normalerweise wusste ich immer nach dem Hallo, ob er gerade Zwiebeln gegessen hatte. Diese Erkenntnis fehlt nun.

Ich glaube, die erzwungene Distanz wird bald zu einer gewissen gesellschaftlichen Abkühlung führen. Die bereits distanzierten Zürcherinnen und Zürcher werden sich noch mehr voneinander entfremden. Körperlich, aber auch psychisch. Unsere Mitmenschen werden zu Gegnern in einem Ego-Shooter-Spiel. Bloss nicht zu nahekommen.

Gleichzeitig wird die Kultur abgeschaltet. Werden die Orte dichtgemacht, in denen wir aufhören, Individuen zu sein und zu einer Gruppe verschmelzen. Argwohn wird den Alltag regieren. Jeder Niesende wird zur Tretmine. Jede Schwitzende zur biologischen Waffe.

Das Virus schafft das, was bislang keine neofaschistische Bewegung hinbekommen hat: Dass die Menschen einander als Gegner in einem Kampf wahrnehmen. Dass Fremdes zur akuten, physischen Bedrohung wird. Dass Angst den Alltag erobert.


Das Virus hat uns zu einer Zeit erreicht, in der Populisten Staaten umkrempeln, man Flüchtlinge lieber im Grab als vor der Haustür hat und ein beträchtlicher Teil der Menschen schlecht gemachten Youtube-Videos mehr Glauben schenkt als der Tagesschau.


Ja, wir sollten uns fürchten. Aber nicht vor dem Virus. Sondern davor, was es mit uns als Gesellschaft macht.

Es bleibt, wenn überhaupt, ein einziger Trost. Wir scheinen Dank des Virus ein wirksames Mittel gegen die zunehmende Klimaerwärmung gefunden zu haben: soziale Kälte. Oder wie ein Bekannter mir in einer Mail schrieb: «Vielleicht wird uns wenigstens das Fieber etwas wärmen.»

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