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Es geht.

Michi Rüegg macht sich Gedanken. Zu viele? Dabei geht es doch um einen ganz simplen Conversation Opener. Warum nur löst der so viel aus?



Eine der schwierigsten Fragen ist gleichzeitig die häufigste: «Wie geht’s?» Tausende Male habe ich sie bereits beantworten müssen. Die wenigsten Leute interessieren sich dabei für den Stand meines Wohlbefindens. Es ist eine dumme, nichtssagende Floskel, die man aus empfundener Alternativlosigkeit in eine Konversation wirft. Besonders dämlich ist die Frage, wenn sie auf einer Chat-App von einem Unbekannten ohne Profilfoto kommt.

Ich habe gelernt, sie genauso inhaltsfrei zu beantworten, wie sie gemeint ist. Danke, gut, next.


Aber das kostet immer etwas Überwindung. Denn kaum lese ich die Frage, rotiert etwas in meinem Kopf. Auch wenn ich nicht übermüdet, gut gelaunt, ohne jedwede Symptome, gerade nicht-depressiv, gesättigt und an und für sich frohen Mutes bin, empfinde ich es als schwierig, einfach mit «gut» zu antworten.

Denn Dinge beschäftigen mich: In den USA versucht der amtierende Präsident gerade durch Spaltung der Gesellschaft einen Bürgerkrieg zu entfachen, der das Ziel hat, seine Wiederwahl zu sichern. In Russland hat sein grosses Vorbild gerade den einzigen halbwegs ernst zu nehmenden Oppositionellen vergiften lassen. In der Türkei rüstet der neue Sultan für den Seekrieg gegen seinen Nato-Partner Griechenland. Auf der Strasse skandieren Impfgegner, Esoteriker*innen, Wohnzimmerneonazis und Menschen, für die Viren nicht existieren, weil sie sie nicht von blossem Auge erkennen können. Und die bewaffneten Konflikte im Mittleren Osten mitsamt der Flüchtlingskrise sind uns nun wirklich egal, weil wir ja inzwischen Maske tragen, die Herbstferien absagen und aufs lange herbeigesehnte Konzert im Hallenstadion verzichten müssen. Wir haben halt eigene Sorgen.

Diese Aufzählung ist nicht abschliessend. Ich ignoriere bloss das meiste, damit ich wenigstens etwas Platz für positive Gedanken behalte. Das ist nicht einfach. Neulich habe ich versucht, einen Tag lang nicht ans Coronavirus zu denken. Das Vorhaben scheiterte logischerweise, als ich mein Handy einschaltete und mir ungefragt die neuesten Ansteckungszahlen aufgetischt wurden.



Michi am Strand. Also nicht unser Michi - aber der da auf dem Bild heisst auch so.


Im Sommer habe ich übrigens ein paar Tage die Hygieneregeln missachtet. Ich war an einem Strand mit vielen Gays. Und es war saulustig. Später schrieben mir dann einige meiner Freunde, dass sie kurz nach meiner Abreise positiv getestet worden seien.

Das war ein Dämpfer. Gut, ich wusste um das Risiko, bin ja nicht blöd. Und ich blieb nach meiner Rückkehr auch brav daheim und traf keine Freunde oder Familienmitglieder. Aber ist schon schön doof. Da möchte man einmal eine Woche etwas Normalität leben. Und dann das. Das geht irgendwie an die Substanz.

Und auf irgendeiner Chat-App fragt wieder ein Gesichtsloser: «Wie geht’s?»

Was soll man da sagen? Vielleicht sollte ich einen langen Textblock speichern, in dem meine grundsätzliche Ablehnung dieser Frage, meine Ambivalenz bei der Beantwortung und die Unsicherheit aufgrund der geopolitischen Lage zum Ausdruck kommt.

Oder ich mache es einfach so wie andere. Ich lasse die Antwort bleiben. Und schicke dafür ein Bild meines erigierten Gliedes. Wenigstens untenrum herrscht ja noch eine gewisse Freiheit. Und zum Küssen können wir ja Masken tragen.

Danke, gut.

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