Michi Rüegg versucht, Influencer*innen zu verstehen. Und scheitert kläglich.
In der Primarschule hatten wir Poesiealben, die herumgereicht wurden. Die Poesie hatte allerdings kaum Zugang zu diesen Büchlein. Das höchste der Gefühle war jeweils ein Spruch wie «Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur». Den schrieb man ins entsprechende Feld auf die Doppelseite, auf die man auch ein Foto von sich klebte.
Die anderen Felder lauteten etwa «Meine Hobbys», «Lieblingstier», «Lieblingslied» und dergleichen. Eines trug den Titel «Mein Idol». Ich wusste nie so recht, was ich dort hineinschreiben soll. Viele schrieben «Maradona», «Madonna», «Mami» oder «Papi» hinein. Für Madonna konnte ich mich wenig begeistern. Und obwohl ich meine Eltern mochte, war es nicht mein Lebensziel, wie sie zu werden. Ein Idol sollte meines Erachtens eine echte Lichtgestalt sein. Und derer gab es in meinem Leben keine.
Ich weiss nicht, ob Poesiealben bei den heutigen Kindern noch die Runde machen. Analoges Zeug ist ja derzeit nicht so hoch im Kurs. Falls doch, was schreiben die Dreikäsehochs der heutigen Zeit ins Idol-Feld? Eine Youtuberin, die Nagellack-Tutorials produziert? Einen Influencer, der sein Sixpack im besten Licht zeigt?
Das Influencer-Wesen ist mir etwas suspekt. Ich schaffe es nicht, bei diesen Figuren einen Grund für deren Prominenz zu entdecken. Klar, es gibt auch Schauspielerinnen und Musiker, die auf Instagram wahnsinnig viele Follower haben. Doch ich meine hier die anderen, diejenigen, die ausserhalb von Social Media gar nicht existieren. Wer sind diese Leute?
Ein Kolumnisten-Kollege fragte neulich auf Facebook in die Runde, wer denn Influencer über 60 seien. Ich dachte spontan an Kurt Aeschbacher. Der hat zwar keine Sixpack-Fotos. Aber er ist immerhin ein Name, den man hierzulande kennt. Allerdings hat Kurt auf Facebook gerade mal 5622 Abonnent*innen. Auf Instagram sind es mickrige 1114, wobei Kurt auch nur ein einziges Foto gepostet hat. Darauf sieht man ihn beim Fonduessen. Darunter steht, es rieche nach stinkenden Füssen, sei aber lecker.
Moderator Marco Fritsche kommt immerhin auf 13'300 Follower*innen. Also etwa gleich viele wie ein unbekannter bärtiger Ungare, der Fotos von sich in Unterwäsche postet. Eine gewisse Sandra Bauknecht, die Modefotos postet, schafft es immerhin auf 28’300.
Sind die Sandra Bauknechts also die Idole der Kiddys von heute? Oder bin ich zu pessimistisch? Vielleicht schreiben die Kleinen auch «Freiheitstrychler» in ihre Poesiealben, oder gar deren geistiges Vorbild, Ueli Maurer. Definitiv auch ein Influencer über 60, den man nennen könnte. Maurer ist übrigens auch auf Instagram. Mit 2773 Follower*innen. Er hat vier Beiträge gepostet. Auf einem Foto sieht man ihn zusammen mit Simonetta Sommaruga, Alain Berset und dem österreichischen Ex-Kanzler Sebastian Kurz, der neulich gestürzt wurde. Alle tragen Maske, Uelis ist eine rote. Er schreibt unter dem Beitrag: «Sehr schöner Moment». Vielleicht, weil alle den Mund zu hatten. Ob so viel Poesie macht er sich gleich Idol-verdächtig.
Kollegin Sommaruga hat übrigens mehr zu bieten: Ihr folgen rekordverdächtige 29'600 Profile. Also noch mehr als Modebloggerin Sandra Bauknecht. Einmal mehr scheitere ich also beim Versuch zu begreifen, wie Social Media funktionieren.
Ich frage mich stattdessen, wie viele Follower*innen Ueli Maurer hätte, wenn er sich in modischen Badehosen ablichten liesse, regelmässig eine Bauernkuppel-Show moderieren würde und eine Frau wäre. Vermutlich könnte er dann für sich beanspruchen, die grösste Influencerin der Schweiz zu sein.
Ob das für einen Eintrag in die Poesiealben dieser Welt reichen würde, ist allerdings ungewiss. Zumal die Alben wohl wirklich nicht mehr existieren. Dabei zählt Ueli Maurer bestimmt auch nur die schönen Momente wie die Sonnenuhr.
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