Oft könne man dies unter Schwulen hören, schrieb Edmund White in einem Essay 1969: «Aber diese Einstellung, so charmant sie auch sein mag, bringt wenig Trost.» Ihren Trost finden Männer, die mit Männern Sex haben, bis heute eher an wirkungsvollen Getränken.
In dem Lokal «Stonewall Inn», das 2019 als geschichtsträchtig gefeiert wurde, war der Alkohol das dominierende Medikament in der Subkultur der Queers. Doch konnte sich vor 50 Jahren keine*r das Patent für den Verkauf dieser Tröster leisten. Alle mussten ihre Flasche selbst mitbringen und auch anschreiben.
Ob dieser Konsum in der Subkultur gesund sei, wurde nie in Frage gestellt. Man griff, wie Heteros auch, zum nächstbesten Aufputschmittel – damit wurde man «super gut». Sobald wir uns auf Sex mit anderen Männern einlassen, sind wir konfrontiert mit unserer Gesundheit. Sexuell übertragbare Infektionen sind bis heute der Preis für freie Sexualität. Darin gibt es auch den Wunsch, sich fallen zu lassen - wie im Alkohol. Wohin wir fallen, bleibt aber unfassbar. Fallen wir aus der Heterosexualität – oder in neue Abhängigkeiten?
Als ich mich mit 20 zum ersten Mal richtig verliebte, bekam ich von einem Arzt Kalzium-Spritzen – und ein Zeugnis für die Freistellung vom Militärdienst, weil Homosexualität dort verboten war. Aber eigentlich hätte ich Bedarf nach einer Therapie meiner Psyche gehabt. Meine Therapie wurde das Schreiben – bis heute. Ein junger Schwuler, der in meinem Blatt, vor Zeiten, regelmässig fröhlich aus seiner Rekrutenschule erzählte, erhängte sich Jahre später, weil er Liebeskummer nicht ein zweites Mal durchmachen wollte.
Immer wieder stehen Schwule davor, nach einem Medikament zu greifen, das weiterhelfen soll.
AIDS erschütterte unsere Gesundheit nachhaltig. Ich erinnere mich an Beziehungsdramen um Fläschchen, die HIV-Positive damals zur Medikation benötigten. Die Poppers-Fläschchen von noch früher erhielten Zuwachs im Kühlschrank. So reiht sich ein «Heilmittel» ans andere, wie bei Medizinmännern rund um die Welt.
«Ein anderer Grund, weshalb Homosexuelle die Kennzeichnung ‹krank› akzeptieren, ist der, dass sie selbst oft alle ihre Leiden völlig unterschiedslos ihrer Homosexualität anlasten», so Edmund White. Das bringt aber keinen Heilungsprozess, es bestätigt nur die Vorurteile der Heterosexuellen. Ja, Schwule sind übermässig selbstmordgefährdet. Sex mit Männern zu haben und trotzdem gesund – oder zumindest: überlebensfähig - zu bleiben, wäre ein gutes Ziel der schwulen Community. Jeder kommt mit der Gesamtproblematik und seinen zusätzlichen individuellen Problemen belastet da herein. Heute sind wir wieder dabei, ein Fläschchen gegen eine Pandemie dazuzustellen. Wieviele sollen es noch werden?
Ungeliebt in unseren Geburtsfamilien rennen wir in Szenen und zu «medizinischen Hilfen». Diese Haltung in der Gay-Community ist zu einem Glauben geworden. Der rutscht immer mehr auch ins diffus Religiöse ab: Durstig nach Liebesbezeugungen küssen wir uns reihum – wie Sektierer heilige Gegenstände. CSDs und Demos sind zu Prides geworden. Wir feiern öffentlich einen Stolz, um für Stunden nicht an unsere Leiden zu denken, mit denen jeder dann wieder allein zu sein scheint. Schwule von heute wissen nicht mehr, wie unsere Vorfahren mit ihren krankmachenden Lebensläufen umgingen. Aber einiges scheint sich hier offenbar nie zu ändern.
Buchhinweis
White, Edmund: Der schwule Philosoph, geschrieben 1969, publiziert in: The Burning Library, 1994, übersetzt für die Ausgabe im Kindler Verlag von David Bergman, 1996
Peter Thommen verfügt über ein umfassendes Archiv mit gesammelten Artikeln
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