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Schwules Computergenie im Kampfgegen die Mörder von Homosexuellen

Alan Turing aus London gelingt im Zweiten Weltkrieg die Entzifferung der deutschen Funksprüche. Wegen seiner Veranlagung durchlebt er später einen Albtraum


Im Jahre 1952 half der damals 19-jährige Arnold Murray einem Komplizen dabei, in das Haus des Forschers und Experten Alan Turing einzubrechen. Murray kannte Turing gut – sehr gut: Er unterhielt mit dem 40-Jährigen eine schwule Beziehung. Turing zeigte den Einbruch an – mit schweren Folgen für ihn, die mit seinem Selbstmord endeten. Geboren am 23. Juni 1912 in London, lebte Turing bis zum 7. Juni 1954.


Vater der Informatik…

Es ist möglich, gut möglich, dass Internet und Social Media schon im 20. Jahrhundert ihren Siegeszug um die Welt angetreten hätten, wenn Alan Turing länger gelebt hätte. Alan Turing ist ein Vorläufer des digitalen Zeitalters. Er darf heute als Vater der Informatik bezeichnet werden.


Hochbegabt für Naturwissenschaften, mit einem Gehirn ausgestattet, für das Zahlen, Berechnungen und Vorstellungen über datenverarbeitende Maschinen die reinste Freude sind, absolviert Turing ein Studium unter einem renommierten Mathematiker, wird selber einer, dazu Forscher, Ingenieur und Tüftler.

Es ist unglaublich: In den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts sieht er die Entwicklung des Computerwesens voraus. Er beschreibt in einem kühnen Aufsatz einen abstrakten Rechenautomaten, die sogenannte «Turing-Maschine», die nur drei Operationen beherrschen soll: Lesen, Schreiben und den Schreib-Lesekopf bewegen. Im Rückblick betrachtet, wurde damals die Vision des modernen Computers geboren. Weiter dürfte kaum verwundern, dass sich ein Mann wie er auch mit der künstlichen Intelligenz auseinandersetzte, die in unserer Gegenwart erneut von grosser Aktualität ist. Pionier in seiner Domäne, entwickelte er in seiner Zeit den Turing-Test, der untersuchen sollte, ob Maschinen denken können, und er spürte, dass die Zukunft Computerprogrammierern gehören würde.

…und Hacker der ersten Stunde

In den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bleibt ein solches Talent nicht unentdeckt, und der britische Staat weiss es im Zweiten Weltkrieg zu nutzen. Grossbritannien steht zusammen mit den USA und der damaligen Sowjetunion im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland, das mit dem Holocaust, dem millionenfachen Mord an den Juden, Homosexuellen und anderen Minderheiten das grösste Menschheitsverbrechen in der Geschichte begeht.

Etwa 70 Kilometer nordwestlich von London, im einsamen Landsitz Bletchley Park, der militärischen Nachrichtenzentrale der Briten, gehört Turing zu einem Team von Experten, das versucht, «Enigma» zu knacken, die mechanische Chiffriermaschine der Deutschen. Turing wird ein Codeknacker, ein Hacker.


Schreckensherrschaft für Schwule beendet

Um die Deutschen erfolgreich belauschen zu können, ist es nötig, einen Teil der verschlüsselten Nachrichten als Klartext zu erkennen, Begriffe etwa wie «Wetterbericht», «Oberkommando der Wehrmacht» oder «Heil Hitler!» Es gelingt tatsächlich, geheime deutsche Funksprüche zu entziffern und binnen Minuten Nachrichten über deutsche Manöverbewegungen vorzulegen. Turing und seine Mitstreiter leisten damit einen Beitrag im U-Boot-Krieg und im Afrikafeldzug und erweisen der Anti-Hitler-Koalition einen wichtigen Dienst. Der Krieg wird abgekürzt, Menschenleben werden dadurch gerettet. Dem nazideutschen Morden wird Einhalt geboten, das schwule Verbrecherregime zur Strecke gebracht. Ein schwuler Wissenschaftler hat mit seinen Fähigkeiten dazu beigetragen.


Sexuelle Neigung als „Sicherheitsrisiko“

Beruflich eilt Alan Turing nach dem Krieg weiter von Erfolg zu Erfolg. Aber wegen seiner Veranlagung wird er vom Staat, von der damaligen Gesellschaft vernichtet. Die Anzeige wegen des Einbruchs in seinem Haus löst eine Kettenreaktion aus: Homosexualität ist damals in Grossbritannien wie anderswo strafbar.

Niemand hält die Hand über ihn; Turing wird verurteilt und hat dann die Wahl zwischen einer Haftstrafe oder einer medizinischen «Behandlung», gilt Homosexualität in jener Epoche doch als «Krankheit». Er wählt das letztere und nimmt, zur «Triebhemmung», Östrogen ein – mit schweren Folgen. Er legt an Gewicht stark zu und der Körper des passionierten und leistungsstarken Langstreckenläufers verweiblicht sich. Er, der seinem Staat im Krieg wertvolle Dienste geleistet hat, wird als «Sicherheitsrisiko» eingestuft und darf seine geheimen Computerforschungen nicht weiterführen.

Späte Rehabilitierung

Nun ist er gebrochen, bekommt schwere Depressionen und begeht in seiner Ausweglosigkeit schliesslich Suizid. 55 Jahre (!) wird es dauern, bis ein britischer Premierminister, Gordon Brown, im Namen seiner Regierung offiziell die Verfolgung des Wissenschaftlers bedauern und seinen Beitrag im Zweiten Weltkrieg würdigen wird. Und noch einmal vier Jahre wird es gehen, bis Alan Turing durch einen Royal Pardon von Königin Elizabeth II. offiziell rehabilitiert wird. Heute zeugen Plaketten, Statuen und Tafeln für ihn, aber sie und die Aufnahmen in die Ehrenhalle des US-Geheimdienstes NSA können das erlittene Leid natürlich nicht ungeschehen machen. Verewigt ist sein Wirken im jährlich verliehenen Turing-Award, mit dem Beiträge zur Informatik ausgezeichnet werden. Und der Film «Enigma – Das Geheimnis» aus dem Jahre 2001 beruht auf der Geschichte von Turing.

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